PROLOG

GESAMMELTE GEDANKEN ZUM BUCH

EIN­GE­FÜHRT UND PRÄ­SEN­TIERT VON WENDELIN STRUBELT IM GE­SPRÄCH MIT DEM RE­DAK­TIONS­TEAM

1.

Es sei mir er­laubt, ein paar er­in­nern­de Worte vor­an­zu­stel­len, wie ich zu dem Zu­sam­men­hang von So­zial­wis­sen­schaft und do­ku­men­tie­ren­der Fo­to­gra­fie ge­kom­men bin, deren let­ztes Pro­dukt für mich dieses Buch ist. Der Ur­sprung war meine Hin­wen­dung zu räum­li­chen Frage- und Pro­blem­stel­lun­gen, die mit einer Arbeit über die Ent­schei­dun­gen und Pla­nun­gen zum neuen Groß­flug­ha­fen in München be­gan­nen und sich dann fort­setz­ten mit em­pi­ri­schen Ana­ly­sen zur Le­bens­wirk­lich­keit in hoch­ver­dich­te­ten Neu­bau­ge­bie­ten in Bremen – mit der Frage nach der so­zia­len Wir­kung be­bau­ter Umwelt. In diesem Zu­sam­men­hang kam ich mit Tony Sachs Pfeiffer in Kon­takt, die sich mit­tels Fo­to­gra­fie und Ge­sprä­chen mit Be­woh­nern in­ten­siv mit den „Nut­zungs­spu­ren“ in öf­fent­li­chen und halb­öf­fent­li­chen Räumen von Städ­ten, spe­ziell in Berlin-Kreuz­berg, be­schäf­tig­te. Dies regte mich an, mich in­ten­si­ver mit den Mög­lich­kei­ten der Fo­to­gra­fie zur do­ku­men­tie­ren­den Ana­ly­se von städ­ti­schen Le­bens­si­tua­tio­nen zu be­fas­sen. Daraus ent­stand eine Studie für das da­ma­li­ge Bun­des­bau­mi­nis­te­ri­um, die sich mit so­zia­len Spuren, mit Ge­brauchs­spu­ren in aus­ge­wähl­ten Neu­bau­ge­bie­ten der alten Bun­des­re­pub­lik, be­schäf­tig­te.

Als sich nach der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung ein grö­ße­res For­schungs­vor­ha­ben zur Er­fas­sung des so­zia­len und po­li­ti­schen Wan­dels in den neuen Bun­des­län­dern in der Form einer von der Bun­des­re­gie­rung ge­för­der­ten Kom­mis­sion, der KSPW, kon­sti­tu­ier­te, war ich fe­der­füh­rend zu­stän­dig für eine Be­richts­grup­pe, die sich mit den räum­li­chen Folgen des Trans­for­ma­tions­pro­zes­ses in Städ­ten und Re­gio­nen be­fass­te. In­ner­halb dieser Gruppe regte ich an, diesen Wandel nicht nur mit Ana­ly­sen, ba­sie­rend auf Do­ku­men­ten und Sta­tis­ti­ken, zu ver­fol­gen, son­dern auch mit Fo­to­gra­fien, die den Zu­stand vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung und den be­reits statt­ge­fun­de­nen Wandel in den ersten Jahren danach do­ku­men­tie­ren, bild­ne­risch er­hel­len soll­ten. Dabei konn­ten wir zu­rück­grei­fen auf fo­to­gra­fi­sche An­sät­ze, die be­reits vor der Wende im Zu­sam­men­hang der Wei­ma­rer Hoch­schu­le für Ar­chi­tek­tur und Bau­we­sen bei dem Stadt­so­zio­lo­gen Fred Staufenbiel ver­folgt worden waren und an denen Jürgen Hohmuth be­reits be­tei­ligt war. Aus dem Kon­takt mit ihm ent­stand 1997 das Buch Jena. Weimar. Dessau. Städ­te­bil­der der Trans­for­ma­tion, das diesen Wandel bild­haft und im Kon­text be­glei­ten­der Auf­sät­ze dar­stell­te. Aus­ge­wähl­te Bilder waren dann auch noch Ge­gen­stand einer Aus­stel­lung des BBR im Deut­schen Ar­chi­tek­tur Zen­trum (DAZ) in Berlin, die zu­sätz­lich mit Bil­dern an­de­rer Fo­to­gra­fen im Rahmen des „Zu­kunfts­fo­rums Raum­pla­nung“ zu­sam­men mit der Aka­de­mie für Raum­for­schung und Lan­des­pla­nung (ARL) 2001 im ehe­ma­li­gen Ple­nar­saal des Deut­schen Bun­des­ta­ges in Bonn ge­zeigt wurden. Die Bilder von Jürgen Hohmuth waren aus seinem klei­nen Luft­schiff auf­ge­nom­men worden und boten einen ganz ei­ge­nen Über­blick über Stadt oder Land­schaft, der einer räum­li­chen Sicht­wei­se und Ana­ly­se ent­ge­gen­kam, eine do­ku­men­tie­ren­de sowie eine ge­wis­se er­läu­tern­de Basis dafür anbot.


Am Teesalon im Schlosspark Tiefurt in Weimar, Thüringen / Oktober 2014

2.

Daraus ent­stand in­ner­halb des wis­sen­schaft­li­chen Teils des BBR die Idee, diese spe­ziel­le Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie zu nutzen, um die Städte- und Sied­lungs­struk­tu­ren fast zwanzig Jahre nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung um­fas­send pa­ra­dig­ma­tisch dar­zu­stel­len. Dieses Projekt mündete in das Buch Der ge­bän­dig­te Raum, das 2010 er­schien. Aus na­he­lie­gen­den Gründen wurden über­pro­por­tio­nal die neuen Länder be­flo­gen und fo­to­gra­fiert, nicht zuletzt auch, um den starken Ent­wick­lun­gen, denen sie un­ter­la­gen, gerecht zu werden.

Über zehn Jahre später ent­stand dann die Idee, dieses Buch nicht nur zu ak­tua­li­sie­ren, sondern es stärker aus­zu­wei­ten auf die gesamte Bun­des­re­pu­blik – auch hier eher pa­ra­dig­ma­tisch denn flä­chen­de­ckend, eher aus­ge­wählt typisch denn re­prä­sen­ta­tiv.

Das Er­geb­nis dieses fort­ge­setz­ten, aber auch ver­än­der­ten An­sat­zes liegt nun vor. Än­de­run­gen hat es auch in der an­ge­wand­ten Art der Auf­nah­me­tech­nik ge­ge­ben, denn neben dem kleinen Luft­schiff er­wei­ter­ten die Ent­wick­lung und der Einsatz von Drohnen die Mög­lich­keit, Fotos „aus halber Höhe“ auf­zu­neh­men. Hinzu kam die Idee, diese neuen Fotos in einen grö­ße­ren und um­fang­rei­che­ren Zu­sam­men­hang von wis­sen­schaft­lich rä­so­nie­ren­den An­sät­zen zu stel­len, um der ge­schätz­ten Le­ser­schaft ein breites Angebot an An­sich­ten und ge­dank­li­chen Über­le­gun­gen vor­zu­stel­len, die den Zu­sam­men­hang von Raum und Ge­sell­schaft aus­leuch­ten und durch­drin­gen.

Im Fol­gen­den sollen die damit ver­bun­de­nen An­sich­ten und Über­le­gun­gen aus der Sicht der Her­aus­ge­ber anhand aus­ge­wähl­ter Fra­ge­stel­lun­gen dar­ge­stellt werden. Es soll an­satz­wei­se ver­sucht werden zu eru­ier­en, welche Ge­dan­ken und Ab­sich­ten hinter diesem „neuen“ Buch Die Gestalt des Raumes stehen.


Verdichtung der Blockrandbebauung nördlich der Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain / Juni 2018

3.

Die Idee, sich nach dem „ge­bän­dig­ten Raum“ noch einmal an einen Band mit Luft­bil­dern von Deutsch­land zu „wagen“, stieß bei den In­sti­tuts­lei­tun­gen von BBSR und IÖR auf Re­so­nanz, ver­bun­den mit der Be­reit­schaft, dieses Projekt mit­zu­tra­gen und zu fi­nan­zie­ren. Auch Jürgen Hohmuth konnte wieder ge­won­nen werden mit­zu­wir­ken, zu­sam­men mit seinem Kol­le­gen Marcus Fehse.

Zu allen Fragen, die sich bei der Kon­zep­tion des Buches er­ga­ben, haben wir unter uns nach Ant­wor­ten ge­sucht, die im Fol­gen­den do­ku­men­tiert sind. Am Anfang standen na­tür­lich die Fragen:


  • Warum ist es an­ge­bracht, ein neues Buch über die räum­li­che Gestalt Deutsch­lands her­aus­zu­brin­gen?

  • Welche räum­li­chen Ver­än­de­run­gen ver­lan­gen eine neue, um­fas­sen­de­re Per­spekt­i­ve aus der Luft?

  • Welche Ge­dan­ken, Ansätze wie Anlässe gibt es, dies zu er­fas­sen und zu do­ku­men­tie­ren?

Fabian Dosch:

Zum einen, weil Land­schaft fas­zi­niert, in ihrer Äs­the­tik, Viel­falt und Schön­heit; gerade aus der Vo­gel­per­spek­ti­ve, trotz un­ge­zähl­ter Bild­bän­de, Foto- und Vi­deo­do­ku­men­ta­tio­nen. Die Per­spek­ti­ve der Drohnen schafft im Ver­gleich zum Flug­zeug und He­li­kop­ter zudem neue Sicht­wei­sen.

Zum anderen wegen des ra­san­ten Land­schafts­wan­dels in den 2010er Jahren, der neue durch Sied­lungs-, Verkehr- und En­er­gie­in­fra­struk­tur ge­präg­te Land­schafts­räu­me und aus­ge­räum­te Agrar­land­schaf­ten, aber in einigen Räumen auch eine Wie­der­be­le­bung na­tur­na­her Land­schaf­ten her­vor­ge­bracht hat.

Unsere Land­schaft ist Aus­druck der Nutzung durch die Ge­sell­schaft, so­zu­sa­gen das „Gesicht Deutsch­lands“. Sie ist nicht nur genuin wert­voll, wie etwa die 451 „Be­deut­sa­men Land­schaf­ten Deutsch­lands“ (vgl. Aufsatz Mengel et al.) be­le­gen, sondern na­tür­li­che Basis und Aus­druck mo­der­ner Ge­sell­schaf­ten, ihrer Ge­schich­te und Ent­wick­lungs­pha­sen, und Re­sul­tat der Be­mü­hun­gen und Ver­su­che, ge­woll­te und un­ge­woll­te Ver­än­de­run­gen steu­ernd zu flan­kie­ren. So sind viel­fäl­ti­ge Land­schafts­räu­me nach wie vor ein be­deu­ten­der Be­stand­teil der räum­li­chen Struk­tur und auch der Iden­ti­tät Deutsch­lands. Sie un­ter­lie­gen einem stän­di­gen Wandel.

In­ner­halb der 10 Jahre zwi­schen 2009–2019, einem Zeit­raum, in dem die Be­völ­ke­rung Deutsch­lands nur um etwas über 1 Million Ein­woh­ner – gut 1 % der Be­völ­ke­rung – wuchs, hat die Sied­lungs- und Ver­kehrs­flä­che um durch­schnitt­lich 78 Hektar/Tag oder ins­ge­samt um 284.000 Hektar (6 % des Be­stan­des von 2009) zu­ge­nom­men (www.inkar.de). Dies ent­spricht mehr als der Fläche des Saarlands oder knapp der 10-fachen Stadt­flä­che von München. Die Agrar­flä­che nahm im glei­chen Zeit­raum um rund 637.000 Hektar oder 174 Hektar/Tag ab. Ca. ⅔ der Land­schafts­räu­me Deutsch­lands wan­del­ten sich in nur einer Ge­ne­ra­tion. 31.109 Wind­kraft­an­la­gen zählt Deutsch­land Anfang 2021. Allein an Land gab es Ende Juni 2021 29.715 Wind­ener­gie­an­la­gen, hinzu kommen 1.501 Anlagen auf hoher See. Allein 11 % der Fläche der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land waren bereits 2013 auf­grund der hohen Dichte an Wind­kraft-, Bio­mas­se- und Pho­to­vol­ta­ik­an­la­gen als Ener­gie­land­schaf­ten cha­rak­te­ri­siert. 2021 sind knapp 7 % der Land­schaft urban / sub­ur­ban bebaut, 14 % Sied­lungs- und Ver­kehrs­flä­che, weitere 8 % in­fra­struk­tu­rell ge­präg­te Land­schaft, weitere 17 % Wind­ener­gie­land­schaf­ten. In der Summe ist somit ca. ⅓ der Fläche Deutsch­lands baulich ge­prägt, wie eine 2021 von BBSR / BMI ver­öf­fent­lich­te Studie zur re­gio­na­len Land­schafts­ge­stal­tung zeigt. Aber in diesem Zeit­raum wurden auch viele neue na­tur­na­he, ge­schütz­te Aus­gleichs­räu­me ge­schaf­fen. Ins­ge­samt stiegen und steigen die Nut­zungs­an­sprü­che und Kon­kur­ren­zen um den knappen Raum mit seinem nicht ver­mehr­ba­ren Boden.


Marcus Fehse:

Als einer der neu Hin­zu­ge­kom­me­nen tue ich mich mit diesen Fragen na­tur­ge­mäß ein wenig schwer. Letzt­lich muss ich fest­stel­len, dass sich in der letzten Dekade mehr­fach die Not­wen­dig­keit ergab, ein Update fürs Navi im Auto zu laden. Die fak­ti­sche Ver­än­der­ung des Raumes lässt sich also kaum be­strei­ten. Auch die Präsenz er­neu­er­bar­er En­er­gien hat im Land­schafts­bild immer weiter zu­ge­nom­men. Pho­to­vol­taik, die zu­nächst nur auf ent­spre­chend aus­ge­rich­te­ten Dächern mon­tiert wurde, ver­drängt entlang viel­be­fah­re­ner Ver­kehrs­we­ge zu­neh­mend die Land­wirt­schaft. Große in­ner­städ­tisch ge­le­ge­ne Gü­ter­ver­kehrs­bahn­hö­fe sind z. B. in Frankfurt/Main, Berlin, München und Düsseldorf der urbanen Nutzung ge­wi­chen, alte Spei­cher und Häfen wurden nicht nur in Hamburg zu at­trak­ti­ven Wohn­quar­tie­ren um­ge­baut. Ver­än­de­run­gen dieser Art werden in­ner­halb einer Zeit­span­ne von gut zehn Jahren deut­lich sicht­bar.


Gotthard Meinel:

Für mich stellt sich in diesem Zu­sam­men­hang die Frage, welche Be­deu­tung kommt einem ana­ly­ti­schen Mo­ni­to­ring der Land­schafts­ver­än­de­rung zu? Denn die Ver­än­de­rung ist ein schlei­chen­der Prozess. Die Ge­schwin­dig­keit hat seit der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­tion zwar zu­ge­nom­men, ist aber für uns nur punk­tu­ell wahr­nehm­bar. Auf Grund­la­ge von frü­he­ren to­po­gra­fi­schen Kar­ten­wer­ken sowie neu­zeit­lich durch Luft- und Sa­tel­li­ten­bil­der kann die Si­tua­tion zu be­stimm­ten Zeit­punk­ten erhoben und di­gi­ta­li­siert werden. Die Ver­än­de­rung und deren Ge­schwin­dig­keit und Rich­tung kann so auf Grund­la­ge dieser Zeit­rei­hen ana­ly­siert und quasi im Zeit­raf­fer­tem­po erfasst werden. Nur so sind die ge­wal­ti­gen Ver­än­de­run­gen für uns erfass- und er­leb­bar und in der Folge auch gezielt mittels Fo­to­gra­fie visuell do­ku­men­tier­bar. Durch die Er­he­bung der Flä­chen­nut­zung im räum­li­chen Detail ist die Be­schrei­bung ver­schie­de­ner Fa­cet­ten der Ent­wick­lung durch die Be­rech­nung von In­di­ka­to­ren möglich. Dieser Ansatz ist in diesem Buch ge­gen­über dem Vor­gän­ger neu auf­ge­nom­men worden. Im Monitor der Sied­lungs- und Frei­raum­ent­wick­lung (www.ioer-monitor.de) wird u. a. die Zunahme der Sied­lungs- und Ver­kehrs­flä­chen, des Ge­bäu­de­be­stan­des, die Na­tür­lich­keit der Land­schaft (He­me­ro­bie), die Ver­än­de­rung von Öko­sys­tem­leis­tun­gen oder die Ent­wick­lung von Schutz­ge­bie­ten be­schrie­ben. So ist es möglich, den kon­ti­nu­ier­li­chen Wandel der Gestalt des Raumes ana­ly­tisch zu er­fas­sen, was mit be­glei­ten­den Fotos dann auch bild­haft ver­deut­licht werden kann.


Koblenz-Nord, Rheinland-Pfalz / September 2020

4.

Dem schlos­sen sich Fragen zum heu­ti­gen Stel­len­wert einer do­ku­men­tie­ren­den Fo­to­gra­fie an – nicht zuletzt an­ge­sichts der Über­fül­le an Bildern in allen Medien, ins­be­son­de­re in den so­zia­len Medien, aber auch wegen der heu­ti­gen Om­ni­prä­senz der Droh­nen, der durch sie ge­mach­ten Bilder und ihrer neuen Mög­lich­kei­ten, aber auch Grenz­über­schrei­tun­gen, etwa in der Form von Über­wa­chung.

Es stel­lten sich die Fragen,


  • ob es eine Ver­fla­chung des do­ku­men­ta­ri­schen wie äs­the­ti­schen An­spru­ches ge­gen­über dem Spek­ta­ku­lä­ren gibt?

  • ob ein Über­fluss beim Angebot vor­liegt?

  • ob Fo­to­gra­fie, die do­ku­men­tie­ren und auf­klä­ren kann, immer mehr von „schönen“ oder spek­ta­ku­lä­ren Auf­nah­men ver­drängt wird?

Jürgen Hohmuth:

Das Span­nungs­feld zwi­schen dem Äs­the­ti­schen und dem Do­ku­men­ta­ri­schen in der Fo­to­gra­fie gab es immer. Auf die Spitze ge­trie­ben schon im Film „Blow Up“ 1966 von Antonioni. Auch dort geht es um das Foto einer Land­schaft, einer Szene in einem Park, in der auf der Ver­grö­ße­rung, dem „Blow Up“, eine Leiche und ein Mörder sicht­bar werden. Mir selbst geht es oft so, dass ich beim spä­te­ren Be­trach­ten eines Bildes Details sehe, die ich während der Auf­nah­me nicht bewusst wahr­ge­nom­men habe, welche aber für die äs­the­ti­sche Qua­li­tät des Bildes ent­schei­dend sind. Jedes Bild kann unter ver­schie­de­nen As­pek­ten be­trach­tet werden und jeder tut das auch, je nach Bildung, Cha­rak­ter und dem jeweils ak­tu­el­len Fokus oder In­te­res­se. Diese Aspekte ver­mi­schen sich meist un­be­merkt. Das können die we­nig­sten von uns bewusst steuern. Ein Bild­re­dak­teur vom „Stern“ wird ein Foto auch unter diesem Span­nungs­feld be­trach­ten, um damit Auf­merk­sam­keit zu er­hei­schen. Wie schön darf ein Foto sein, das schreck­li­che Zu­stän­de zeigt?

Es gibt in der mo­der­nen Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie eine Tendenz weg von den klas­si­schen Schön­heits­ide­al­en hin zur äs­the­ti­schen Ba­na­li­sie­rung. Damit werden die tra­di­tio­nel­len Bild­mus­ter ge­bro­chen und wieder neue Auf­merk­sam­keit erregt und ge­ne­riert. Für die Fo­to­gra­fie von Raum­mus­tern be­deu­tet dies eine Abkehr von Regeln wie dem „Gol­de­nen Schnitt“, von Son­nen­un­ter­gän­gen oder der Auf­tei­lung von Vorder- und Hin­ter­grund in der Land­schafts­fo­to­gra­fie. In den di­gi­ta­len Medien lösen sich diese Regeln voll­ends auf, der Re­gel­bruch wird zur Norm.

Was macht die in­fla­tio­nä­re Flut der Bil­der­wel­ten mit uns? Schärft sie unseren ana­ly­ti­schen Blick oder lässt sie uns ab­stum­pfen? Auch das ist eine Frage der Bildung und des Trai­nings. Bis der Buch­druck er­fun­den wurde, zogen fah­ren­de Bän­kel­sän­ger über die eu­ro­päi­schen Jahr­märk­te und sangen Mo­ri­ta­ten zu den Bildern von Räubern, Mon­stern und Teu­fels­qua­len vor dem schreck­star­ren Volk. Texte in Büchern lesen, ver­ste­hen und in­ter­pre­tie­ren ist eine Form von Bil­dung, die mühsam über die Jahr­hun­der­te er­ar­bei­tet wurde. Oft sehen wir heute noch, wie bei den Bän­kel­sän­gern das Bild als Il­lus­tra­tion zum Text, als bild­li­chen Beweis, dass der Text die „Wahr­heit“ erzählt.

Jedes ge­wün­schte Bild ist heute durch Ma­ni­pu­la­tion und Montage her­stell­bar, der fo­to­gra­fi­sche Beweis ist also null und nichtig. Ebenso wie jeder in den Weiten des In­ter­nets alles und jedes be­haup­ten kann, ohne zur Re­chen­schaft gezogen zu werden. Das be­wuss­te Lesen von fo­to­gra­fi­schen Bil­dern, die Fä­hig­keit zur Analyse und dem be­wuss­ten Ent­flech­ten der Bild­ein­drü­cke ist erst am Anfang. In­so­fern kann unser Buch ein Schritt in diese Rich­tung sein, indem es text­li­che Analyse und bild­li­che Dar­stel­lung ne­ben­ein­an­der­stellt und es dem den­ken­den und füh­len­den Be­trach­ter über­lässt, diese span­nungs­vol­len Inhalte ab­zu­glei­chen und im Dialog zu hin­ter­fra­gen.


Marcus Fehse:

Seit wir mit unseren Fo­to­ap­pa­ra­ten auch te­le­fo­nie­ren und im In­ter­net surfen können, wird unsere Wahr­neh­mung mit Bildern un­ter­schied­lich­ster Qua­li­tät und Aus­sa­ge­kraft ge­flu­tet. Das Herz der Be­trach­ten­den mit einem Son­nen­un­ter­gang zu er­wär­men, bedarf keiner be­son­ders großen Kunst­fer­tig­keit. Zudem muss heute niemand mehr warten, bis die Filme ent­wi­ckelt und Fotos aus­be­lich­tet sind. Man sieht das Er­geb­nis sofort und macht im Zweifel weitere Fotos – bis es passt. Unsere Mo­bil­te­le­fo­ne können zwar noch nicht fliegen, eine 250 g leichte Mini-Drohne be­herrscht jedoch – dank aus­ge­reif­ter tech­ni­scher Un­ter­stüt­zung – jedes Kind im Hand­um­dre­hen. In­so­fern stellt die zu­neh­men­de Be­lie­big­keit von Luft­auf­nah­men die do­ku­men­ta­ri­sche Luft­bild­fo­to­gra­fie vor die Aufgabe, äs­the­tisch wie räum­lich und ana­ly­tisch ge­schärf­te Er­geb­nis­se zu liefern.

Die „halbe Höhe“ er­öff­net den Be­trach­ten­den per se un­er­war­te­te Per­spek­ti­ven. Den Fo­to­gra­fie­ren­den er­mög­licht sie zudem, gezielt räum­li­che Zu­sam­men­hän­ge her­zu­stel­len, die sich nur aus der Luft er­schlie­ßen – ohne dabei gänz­lich die „Bo­den­haf­tung“ zu ver­lie­ren. Aus­sa­ge­kräf­ti­ge Blicke zu finden, die sich nur selten rein zu­fäl­lig ein­fan­gen lassen, ist die Her­aus­for­der­ung, der wir uns in der do­ku­men­ta­ri­schen Luft­bild­fo­to­gra­fie stellen. Ob uns das auch in diesem Band ent­spre­chend ge­lun­gen ist, kann letzt­lich nur von den be­trach­ten­den Le­se­rin­nen und Lesern ent­schie­den werden.


Gotthard Meinel:

Die raum­ana­ly­ti­sche Er­fas­sung von Land­nut­zung und -be­de­ckung erfolgt im op­ti­schen Bild­be­reich mit einer lot­recht nach unten schau­en­den Kamera. Der­ar­ti­ge Senk­recht­auf­nah­men zeigen weniger Bild­ver­zer­run­gen als Schräg­luft­bil­der und sind ein­fa­cher fo­to­gram­met­risch zu ver­ar­bei­ten. Solche Mess­bil­der sind damit zwar besser ma­schi­nen-, aber schlech­ter „men­schen­les­bar“, denn hier geht in der Be­trach­tung der 3D-Ein­druck ver­lo­ren. Das ist bei den Luft­bild­auf­nah­men dieses Buch­ban­des nicht der Fall. Denn die schräg und in einer Höhe von ca. 50–100 Metern auf­ge­nom­me­nen Fotos er­mög­li­chen einen wun­der­ba­ren plas­ti­schen Ein­druck von der Land­schaft und der Höhe seiner Objekte – wie Gebäude, Bäume, Wind­kraft­an­la­gen – oder der rie­si­gen Di­men­sio­nen von Ab­bau­flä­chen, der sonst nicht er­fahr­bar wäre.


Fabian Dosch:

Dem wäre hin­zu­zu­fü­gen: Die Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie, also hier der un­ver­stell­te Blick auf Land­nut­zung und Land­be­de­ckung mit Fo­to­kop­ter bzw. Drohnen, ist ein Teil auf­klä­re­ri­scher Raum­be­ob­ach­tung, er­gän­zend zu ter­res­tri­scher und sa­tel­li­ten­ge­stütz­ter Er­fas­sung.

Au­ßer­dem sei hier noch eine zu­sätz­li­che Be­mer­kung zur Auswahl der Auf­nah­me­stand­or­te ergänzt: Sie er­folg­te ge­mein­sam aus Vor­wis­sen und Li­te­ra­tur­quel­len mit dem Ziel, eine mög­lichst große Zahl von raum­ent­wi­cklungs­re­le­van­ten Land­schafts­struk­tu­ren und Land­schafts­räu­men auf einer op­ti­mier­ten Route bun­des­weit zu er­fas­sen. Na­tür­lich bleibt die Auswahl sub­jek­tiv, eine Stich­pro­be. Und doch haben wir diesmal mit knapp 100 Stand­or­ten eine große Zahl von Land­schafts­räu­men erfasst, auch wenn Küs­ten­räu­me, das Hoch­ge­bir­ge, Flug­hä­fen u. a. m. nicht ab­ge­deckt werden. Die Fo­to­aus­wahl er­folg­te aus fach­li­chen wie fo­to­tech­ni­schen Er­wä­gun­gen aus mehr als 2.500 Luft­bil­dern.


Industrielogistik am Neustädter Hafen bei Bremen-Woltmershausen / Oktober 2007

5.

Aus der Fülle der täglich auf allen Ebenen an­fal­len­den Fo­to­gra­fien ge­win­nen nur einige wenige eine über­grei­fen­de, mit­rei­ßen­de oder auch an- wie auf­rüh­ren­de, wenn nicht gar his­to­ri­sche Be­deu­tung. Sie können Bei­spie­le, sogar all­ge­mei­ne Ikonen für den je­wei­li­gen Zeit­geist sein, dafür stehen. So stell­ten sich Fragen nach dem Stel­len­wert von Fo­to­gra­fien im Zu­sam­men­hang von wis­sen­schaft­li­chen Ar­bei­ten:


  • Sind Fo­to­gra­fien im Bereich der Raum­for­schung – ins­be­son­de­re in allen Di­men­sio­nen einer zu Grunde lie­gen­den und / oder an­ge­streb­ten Nach­hal­tig­keit – nur Dekor oder eine ei­gen­stän­di­ge Ana­ly­se­ebe­ne?

  • In welcher Be­zie­hung stehen Fo­to­gra­fien zur kar­to­gra­fi­schen Dar­stel­lung – geo­gra­fisch, phy­sisch und the­ma­tisch, ins­be­son­de­re ge­gen­über Kar­to­gram­men oder Pro­duk­ten der Kar­to­gra­fik?

Jürgen Hohmuth:

Anfang der 1990er-Jahre habe ich im Rahmen des Mas­ter­plans Bitterfeld-Wolfen einen do­ku­men­ta­ri­schen Foto-Film pro­du­ziert. Dafür waren Luft­bil­der als zu­sätz­li­che Per­spek­ti­ve für den bes­se­ren Über­blick sinn­voll, und so habe ich einen lokalen Sport­flie­ger ge­char­tert und bin mit aus­ge­häng­ter Tür über Sachsen-Anhalt ge­flo­gen. So sind auch für die Ein­hei­mi­schen ver­blüf­fen­de Auf­nah­men ent­stan­den, weil hinter der Be­bau­ung entlang der Haupt­stra­ßen groß­flä­chige Grün­flä­chen sicht­bar wurden, die von unten kaum wahr­nehm­bar hinter den Zi­vi­li­sa­tions­strei­fen lagen und oft schwer zu­gäng­lich waren. Ehe­ma­li­ge Berg­bau­flä­chen, Kippen und ge­sperr­te Be­triebs­ge­län­de hatten sich zu Bio­to­pen ent­wi­ckelt, die dem Bild der „grauen Region“ of­fen­sicht­lich wi­der­spra­chen. Daraus ent­stand mein erster Luft­bild­ka­len­der, weil die ört­li­che Pro­jekt­ge­sell­schaft das po­si­ti­ve Po­ten­zial dieser Bilder schnell er­kann­te. Und ich war ver­blüfft, wie solche Bilder selbst den Ein­ge­weih­ten Ver­trau­tes neu erleben ließen, weil sie Zu­sam­men­hän­ge und Brüche in der Land­schaft zeigten. Schon bei diesen Flügen wollte ich immer tiefer runter als die ei­gent­lich er­laub­ten 1.000 Fuß, also ca. 300 m, weil ober­halb die Sicht immer gra­fi­scher wird und je tiefer wir kamen die Bilder um so räum­li­cher und sinn­lich er­leb­ba­rer wurden. Der Dunst durch die langen Dis­tan­zen und die Ver­wack­lungs­ge­fahr durch die Ge­schwin­dig­keit sind weitere stän­di­ge Be­glei­ter gewesen. Als mir dann ein US-ame­ri­ka­ni­sches Luft­bild­sys­tem auf Basis eines Blimps oder Prall­luft­schiffs, also eines un­be­mann­ten Fes­sel­bal­lons in Zep­pe­lin­form, an­ge­bo­ten wurde, das genau diese Pro­ble­me umging, schlug ich zu, obwohl mir alle Kol­le­gen ab­rie­ten und es tech­nisch un­aus­ge­reift war. Mit Hilfe meines Vaters und eines Freun­des, die tech­nisch so ver­siert waren, meine Vor­stel­lung­en um­set­zen zu können, habe ich das System dann per­ma­nent wei­ter­ent­wi­ckelt, bis die völlig neue Technik mit Drohnen – oder besser: mehr­flü­ge­li­gen un­be­mann­ten Koptern – es fast über­flüs­sig machte. In einer Zeit, als diese dichten Luft­bild­Per­spek­ti­ven nur von einem Turm oder mit einer rie­si­gen He­be­büh­ne rea­li­sier­bar waren, habe ich die Welt für mich neu ent­deckt. Davon träumt jeder Do­ku­men­tar­fo­to­graf: Einen völlig neuen Blick zu finden. Wir bewegen uns ja klas­sisch auf Au­gen­hö­he zwei­di­men­sio­nal, plötz­lich kam zu den Mög­lich­kei­ten links / rechts, vor / zurück für die Ka­me­ra­po­si­tion noch hoch und runter hinzu, was die Mög­lich­kei­ten ex­po­nen­tiell er­wei­tert und ein räum­lich er­leb­ba­res Luft­bild möglich macht. Die Luft­bil­der aus der klas­si­schen Per­spek­ti­ve von 1.000 Fuß bis zum Blick aus dem Sa­tel­li­ten liegen platt vor uns und lassen oft nicht erahnen, was sich drei­di­men­sio­nal auf­fä­chert, wenn wir dicht mit dem Ob­jek­tiv davor schwe­ben. So bin ich auch nach über 20 Jahren immer wieder ver­blüfft, wenn ich auf meinen Monitor am Boden schaue – trotz Vor­re­cher­che bei „Google Earth“. Wir sind auch wei­ter­hin mit dem He­li­kop­ter oder dem Klein­flug­zeug un­ter­wegs, um Luft­bil­der für den großen Über­blick zu finden, aber die auch für uns über­ra­schend­sten Bilder ent­ste­hen „aus halber Höhe“!


Marcus Fehse:

Aus meiner Sicht sollten Luft­bil­der „aus halber Höhe“ auf keinen Fall nur als schmü­cken­des Beiwerk gesehen werden. Sie ver­mit­teln il­lus­tra­tiv zwis­chen der Ab­strak­tion kar­to­gra­fi­scher Dar­stel­lun­gen und der Rea­li­tät – auf einer Be­trach­tungs­ebe­ne, die den Be­trach­ten­den Zu­sam­men­hän­ge er­öff­net, die uns auf Au­gen­hö­he schlicht­weg ver­bor­gen bleiben. Genauer be­trach­tet ist ein zu­sätz­li­cher Er­kennt­nis­ge­winn na­tür­lich nicht aus­zu­schlie­ßen. Von daher ten­die­re ich klar zur ei­gen­stän­di­gen Analyse-Ebene.


Fabian Dosch:

Sa­tel­li­ten- und Droh­nen­auf­nah­men werden zu­neh­mend zur Er­fas­sung der Land­be­de­ckung und deren Ver­än­de­rung ein­ge­setzt, aus denen sich In­di­ka­to­ren ab­lei­ten lassen. In­so­fern sind sie eine ei­gen­stän­di­ge Analyse-Ebene. Zudem haben Luft­bil­der eine Ob­jek­ti­vi­tät, da sie nahezu un­ge­fil­tert den Zustand der Erd­ober­flä­che dar­stel­len.

In diesem Buch nutzten wir die Luft­bil­der zur Do­ku­men­ta­tion, die Frei­raum zur In­ter­pre­ta­tion bieten. Uns geht es darum, aus einer bun­des­wei­ten Per­spek­ti­ve zu do­ku­men­tie­ren, die sowohl das „Normale“ wie auch das „Be­son­de­re“ dar­stellt, als Er­geb­nis von Land­nut­zungs­pro­zes­sen. Sie bieten An­re­gun­gen zur In­ter­pre­ta­tion des Zu­stands als Re­sul­tat von Zufall oder Ge­stal­tung. Luft­bil­der sind somit ein Kom­ple­ment zu the­ma­ti­schen Karten als räum­li­ches Abbild raum­re­le­van­ter Daten. Karten sind somit das Abbild in­duk­tiv-em­pi­ri­scher Er­kennt­nis­se, die Droh­nen­bil­der be­die­nen eher das de­duk­ti­ve Er­kennt­nis­in­te­res­se, d. h. aus Wissen über einen Zustand werden all­ge­mei­ne Schluss­fol­ge­run­gen gezogen.


Gotthard Meinel:

Kar­to­gra­fi­sche Pro­duk­te sind immer Ab­strak­tio­nen der Wirk­lich­keit. Sie ver­ein­fa­chen hin­sicht­lich des räum­li­chen Details. Aber auch auf die Dar­stel­lung der Viel­falt der Land­nut­zungs- und -be­de­ckungs­ar­ten wird ver­zich­tet, um den Blick auf eine jeweils aus­ge­wähl­te The­ma­tik zu schär­fen. Ganz anders die fo­to­gra­fi­sche Ab­bil­dung mit ihrer 1:1 Dar­stel­lung der ak­tu­el­len Si­tua­tion. Darum sind vor allem mess­tech­nisch ver­wert­ba­re Sa­tel­li­ten- und Luft­bild­auf­nah­men von un­schätz­ba­rem Wert und werden in immer weiter wach­sen­den di­gi­ta­len Ar­chi­ven ge­spei­chert. Auch wenn diese in der Regel gleich hin­sicht­lich be­stimm­ter Fra­ge­stel­lun­gen aus­ge­wer­tet werden, stecken in ihnen doch sehr viel mehr an Details. Gerade die Um­welt­for­schung ent­deckt den Wert der his­to­ri­schen Auf­nah­men zu­neh­mend und nutzt sie immer häu­fi­ger zum Aufbau von Zeit­rei­hen. Denn die Land­nut­zung hat auf das Erd-, Klima- und Bio­sys­tem einen un­mit­tel­ba­ren Ein­fluss. Der Zugriff auf die Bild­ar­chi­ve wird zudem immer weiter durch Bild­such­funk­tio­nen und halb­au­to­ma­ti­sier­te Aus­wer­tungs­un­ter­stüt­zun­gen er­leich­tert. Die hier ge­zeig­ten Luft­bild­auf­nah­men haben einen anderen Wert. Sie er­mög­li­chen in der Be­trach­tung einen di­rek­ten Ein­stieg in die Land­schaft und eine Ein­schät­zung der Si­tua­tion.

Gerade hin­sicht­lich der Ver­än­de­run­gen in der Gestalt und der Ge­stal­tung des Raumes und den damit ver­bun­de­nen Um­welt­wir­kun­gen und ihrer Nach­hal­tig­keit stellen sich Fragen. Können sie mit Luft­bil­dern erfasst werden? Die Um­welt­wir­kun­gen sind bei allen Be­mü­hun­gen um eine um­welt­ver­träg­li­che, nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung groß. Die Luft­bil­der zeigen bei­spiel­haft den Umfang, die Tiefe und die Viel­fäl­tig­keit der Ein­grif­fe in unsere Land­schaft. Das wird in be­son­de­rer Weise bei Ab­bau­ge­bie­ten deut­lich. Aber auch die vielen neuen Hoch­ge­schwin­dig­keits­tras­sen, Kenn­zei­chen einer Hoch­leis­tungs­in­dus­trie­ge­sell­schaft, zeigen die Tiefe der Ein­grif­fe. Die Folgen für die Land­schaft und den Na­tur­haus­halt sind un­über­seh­bar und oft auch nach­tei­lig, denn die Land­schaft wird zer­schnit­ten, na­tür­li­cher Boden über­baut und das Land­schafts­bild ver­än­dert sich. Auch die an­hal­ten­de bau­li­che Sied­lungs­ent­wick­lung mit der damit ver­bun­de­nen In­an­spruch­nah­me von Frei­räu­men führt zu einer wei­te­ren Zer­sied­lung. Al­ler­dings wird mit Aus­gleich­maß­nah­men ver­sucht, diesen nach­tei­li­gen Ent­wick­lun­gen ent­ge­gen­zu­wir­ken. Letzt­lich zeigen die Fotos auch die Mo­no­to­nie land­wirt­schaft­lich ge­präg­ter Räume mit ihren rie­si­gen Feldern und agrar­in­du­stri­el­len Anlagen. Im­mer­hin prägen diese mehr als die Hälfte unserer Fläche in Deutsch­land. Ihre Dar­stel­lung deutet die nach­tei­li­ge Um­welt­wir­kung kon­ven­tio­nel­ler be­wirt­schaf­te­ter Felder an, die Be­ein­träch­ti­gung der Bo­den­funk­tio­nen und den Verlust von Bio­di­ver­si­tät.


Das Elsterflutbett in Leipzig-Schleußig, Sachsen / August 2019

6.

Die fol­gen­den Fragen be­zie­hen sich mehr auf das in­halt­li­che Umfeld des Buches, nämlich darauf, welchen Stel­len­wert die öf­fent­li­che Steue­rung und Planung der ge­sell­schaft­li­chen Ein­wir­kun­gen auf den na­tür­li­chen Raum hatte, noch hat:

Die Fragen be­zie­hen sich


  • auf die Rolle der Raum­pla­nung auf den ver­schie­de­nen Ebenen unseres fö­de­ra­len Staats­auf­baus – ist sie steu­ernd, ko­or­di­nie­rend oder auf­klä­rend in der Viel­falt der fö­de­ra­len wie fach­li­chen Zu­stän­dig­kei­ten?

  • Welche Aspekte und / oder Po­li­tik­be­rei­che be­stim­men derzeit die räum­li­che Ge­stal­tung, prägen die Gestalt des Raumes, de­fi­nie­ren das bonum commune?

Fabian Dosch:

Die Bän­di­gung des Na­tur­raums durch Wirt­schaft und ge­sell­schaft, Agrar- und Forst­wirt­schaft, Sied­lung und Verkehr er­folg­te nicht ohne räum­li­che Steue­rung – ob gezielt ge­woll­te oder eher sich un­ab­sicht­lich ent­wi­ckeln­de. Im Er­geb­nis sind Deutsch­lands Land­schaf­ten immer noch von un­be­bau­ten Frei­räu­men do­mi­niert, z. T. wei­ter­hin durch klein­tei­li­ge Land­wirt­schaft geprägt, selten voll aus­ge­räumt, recht klar ge­glie­dert, viel­fäl­tig ge­stal­tet. Das macht diese Land­schaf­ten be­son­ders und wert­voll – auch im Ver­gleich zu manchen eu­ro­päi­schen Nach­barn oder au­ßer­eu­ro­päi­schen Län­dern, in denen etwa die Do­mi­nanz von Markt­pro­zes­sen und das Fehlen einer steu­ern­den Planung von Raum­nut­zun­gen zu einer stär­ke­ren Zer­sie­de­lung, Bo­den­zer­stö­rung oder vor­wie­gen­den agro­in­du­stri­el­len Land­nut­zung geführt haben, als wir das für Deutsch­land be­ob­ach­ten können.

Deutsch­lands Ober­flä­che ist durch­weg eine aus­ge­präg­te Kul­tur­land­schaft, also vom Men­schen ge­präg­te und ge­stal­te­te Land­schaft, sieht man von den wenigen Na­tur­re­ser­va­ten der Na­tio­nal­parks ab. Das macht den ge­nutz­ten Raum viel­fäl­tig – nicht nur vor dem Hin­ter­grund seiner „Natur“, sondern ins­be­son­de­re durch die Formen seiner ge­sell­schaft­li­chen Nutzung. Hin­ge­gen ten­diert „reine Natur“ zu Ar­ten­do­mi­nanz. So wäre der Raum in Deutsch­land ohne kul­tu­rel­le Nutzung be­kannt­lich vor­wie­gend von Wald bedeckt. Wirt­schaft­li­che Ak­ti­vi­tä­ten ge­stal­ten Land­schaft, in erster Linie die Agrar­po­li­tik, aber glei­cher­ma­ßen auch Bau­maß­nah­men der Sied­lungs-, Ver­kehrs- und Ener­gie­in­fra­struk­tur. Raum­pla­nung hat die Aufgabe, dies zu flan­kie­ren, zu ordnen, zu schüt­zen und zu steuern. Das in Deutsch­land vor­han­de­ne Prinzip der pla­ne­risch flan­kie­ren­den Steue­rung von Raum­nut­zun­gen – durch ver­schie­de­ne ge­sell­schaft­li­che Kräfte, For­ma­tio­nen, Regeln und Gesetze, die weit mehr als Land­schafts­pla­nung und Raum­ordnung sind – funk­tio­niert zu­min­dest aus der Luft­bild­Per­spek­ti­ve of­fen­sicht­lich meist. Die Droh­nen­bil­der zeigen ein über­wie­gend recht ge­ord­ne­tes Bild einer viel­fäl­ti­gen Land­schaft, an dessen Gestalt die ver­schie­de­nen Ebenen räum­li­cher Planung mit­ge­wirkt haben, mehr als manch­mal und man­cher­orts in der Öf­fent­lich­keit und in ihren Dis­kus­sio­nen bewusst ist oder zur Kennt­nis ge­nom­men wird. Die Bilder lassen ver­mu­ten, dass Raum­ord­nung und Land­schafts­pla­nung durch­aus einen wich­ti­gen Beitrag zur Steue­rung der Land­nut­zung und Land­schafts­ge­stalt haben, wenn­gleich auch die Über­nut­zung und mas­siv­en Ein­grif­fe in die Land­schaft deut­lich werden.

Auch bei wei­te­rem Nut­zungs­druck soll Land­schaft in Zukunft zwi­schen Be­wah­rung und Ver­än­de­rung at­trak­tiv bleiben. Es muss ein ge­sell­schaft­li­cher, po­li­ti­scher und ad­mi­ni­stra­ti­ver, aber auch ak­zep­tier­ter Aus­gleich ge­fun­den und ge­stal­tet werden. Dies soll mit diesem Buch im Sinne einer „Ko­or­di­na­tion durch In­for­ma­tion“ sowohl mit den Luft­bil­dern als auch mit den ana­ly­ti­schen Text­bei­trä­gen un­ter­stützt werden. Es soll damit auch Ma­te­ri­al (Luft­bil­der, Texte, Ar­gu­men­te) für die derzeit wieder ver­stärkt in Deutsch­land, aber bei­spiels­wei­se auch in der Schweiz ge­führ­ten Dis­kus­sio­nen und po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Raum­nut­zun­gen und Kon­flik­te (Stich­wor­te: Kli­ma­fol­gen, Zer­sied­lung, Land­schafts­ver­brauch, Flä­chen­fraß, Ur­ba­ni­sie­rung, Ar­ten­ver­lust, Wahrung der na­tür­li­chen Grund­la­gen, räum­li­che Dis­pa­ri­tä­ten u. a.) bei­tra­gen und be­reit­stel­len.


Der Parkplatz Große Kurve unterhalb des Großen Feldbergs im Hochtaunus bei Oberursel, Hessen / September 2021

7.

An­ge­sichts der Fülle der Bilder, Bild­bän­de, der Filme und der TV-Do­ku­men­ta­tio­nen kommen al­ler­dings auch die Fragen auf:


  • Welche Be­deu­tung haben Fo­to­gra­fien bei der de­mon­stra­ti­ven Un­ter­stüt­zung von raum­ord­ne­ri­schen Kon­zep­ten oder Leit­bil­dern? Gibt es neben der „Ko­or­di­na­tion durch In­for­ma­tion“ auch eine „Kraft der Bilder“?

  • Gibt es do­mi­nie­ren­de „Ge­stal­ten“, d. h. prä­gen­de Figuren in den Be­rei­chen von Raum­pla­nung und Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie?

Marcus Fehse:

Ob wir es nun wollen oder nicht: Kom­mu­ni­ka­tion findet zu­neh­mend online statt. Staats­ober­häup­ter twit­tern! Die Auf­merk­sam­keits­span­ne sinkt. Ebenso die Be­reit­schaft, Schach­tel­sät­ze zu lesen und sich mit ab­strak­ten In­hal­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen. Bücher und Zei­tun­gen sind „old­school“. In einer Welt voller audio­vi­su­el­ler Reize sagt ein Bild sprich­wört­lich „mehr als 1.000 Worte“! Sich die Kraft der Bilder zunutze zu machen, kann daher der Dar­stel­lung und Kom­mu­ni­ka­tion raum­ord­ne­ri­scher Kon­zep­te in der Öf­fent­lich­keit nur dien­lich sein.


Wendelin Strubelt:

In meiner nach­fol­gen­den Dar­stel­lung aus­ge­wähl­ter Bild­bä­nde – zumeist aus Deutsch­land – ist für mich deut­lich ge­wor­den, dass sie in ihrer Viel­falt jeweils durch­aus auch be­son­de­re Akzente setzten, setzen wollten. Diese waren ei­ner­seits ver­bun­den mit der Ein­füh­rung neuer tech­ni­scher Mög­lich­kei­ten (durch Luft­bal­lons, Luft­schif­fe / Zep­pe­li­ne, Flug­zeu­ge, Drohnen, Sa­tel­lit­en), die neue Per­spek­ti­ven er­öff­ne­ten. Damit waren auch neue Er­reich­bar­kei­ten, Über­sich­ten oder gar Ent­de­ckun­gen ver­bun­den, die zu völlig neuen Sicht­wei­sen und Be­wer­tun­gen führten. Ganz zu schwei­gen na­tür­lich von dem so­ge­nann­ten fo­to­gra­fi­schen Blick, seiner Ima­gi­na­tion, die es er­mög­lich­te, den Blick zu fo­kus­sie­ren, aus­zu­wei­ten, oder gar erst wirk­lich werden ließ. Dafür gibt es viele ver­schie­de­ne Bei­spie­le von Pio­nie­ren oder Kom­bi­nie­rern, Ent­de­ckern und Det­ail­lis­ten – nicht in allen Fällen über­ra­gen­den Ge­stal­ten, aber viel Spek­ta­ku­lä­res, ins­ge­samt eine un­ge­heu­re Breite, immer auch dem je­wei­li­gen Zeit­geist ver­pflich­tet, ihm folgend oder ihn kri­ti­sie­rend!

Und in der Kom­bi­na­tion mit Raum­pla­nung, mit der Sicht auf den Raum, auf seine Ge­stal­tung und seinen Wandel? Auch hier gibt es Durch­brü­che und neue Sicht­wei­sen an­ge­sichts der tech­ni­schen und neuen ge­sell­schaft­li­chen oder po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen oder Her­aus­for­de­run­gen. Wer stellte etwas zum ersten Mal dar, unter welcher Per­spek­ti­ve und mit welcher Absicht? Oder wer ver­fäl­schte ab­sicht­lich Bilder und mit welcher In­ten­tion? Letz­te­res wahr­schein­lich weniger auf den Raum als solchen bezogen als viel­mehr auf Be­sitz­an­sprü­che, Grenz­zie­hun­gen u. ä. Oder anders gefragt, gibt es bei der Land­schafts­auf­nah­me durch die Fo­to­gra­fie und ihre tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten auch Bei­spie­le, wie sie aus po­li­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen bekannt sind, bei denen bei­spiels­wei­se zu einem spä­te­ren Zeit­punkt un­lieb­sam ge­wor­de­ne Per­so­nen weg­re­tu­schiert oder andere, ur­sprüng­lich gar nicht auf­ge­nom­me­ne, hin­ein­re­tu­schiert wurden? Die Mög­lich­kei­ten dazu sind heute durch die all­ge­mei­ne Zu­gäng­lich­keit ent­spre­chen­der Bild­pro­gram­me na­tür­lich viel größer ge­wor­den. So wie Fäl­schun­gen oder un­er­laub­te, d. h. nicht an­ge­ge­be­ne Quel­len­über­nah­me etwa bei wis­sen­schaft­li­chen Ar­bei­ten zu­ge­nom­men haben, gibt es aber auch mehr Mög­lich­kei­ten ihrer Über­prü­fung – aus In­ter­net­quel­len oder durch eine auf­ge­klär­te Öf­fent­lich­keit. Gleich­wohl haben Fo­to­gra­fien zu be­stimm­ten Kon­stel­la­tio­nen in Raum und ge­sell­schaft, auf den Punkt auf­ge­nom­me­ne Si­tua­tio­nen, oft eine Ein­drück­lich­keit und Kraft, die andere Medien selten so punkt­ge­nau und ziel­sicher er­rei­chen. Solche ein­präg­sa­men Bei­spie­le wurden al­lent­hal­ben zu Ikonen der je­wei­li­gen Zeit.

Zu eru­ie­ren, wie dies bei Raum­pla­nung, Raum­ord­nung und Raum­for­schung selbst ist, wer hier die alles über­rag­en­den oder ver­ges­se­nen Ge­stal­ten sind oder Ideen hat oder hatte – als Stich­worte seien nur genannt: Zen­tra­le Orte, Trag­fä­hig­keit, räum­liche Dis­pa­ri­tä­ten oder Ko­hä­sion, en­do­ge­ne Ent­wick­lung –, das würde wegen der zu be­rück­sich­tig­en­den na­tio­na­len Un­ter­schie­de, der Ge­wich­tun­gen nach his­to­ri­schen Ak­zent­set­zun­gen und Zeit­ab­läu­fen und ihrer jeweils ver­schie­de­nen Wei­chen­stel­lun­gen zu weit führen – das zu er­ör­tern, ist hier nicht der Platz. Al­ler­dings können bei ver­schie­de­nen der hier prä­sen­tier­ten Luft­bil­der die prä­gen­de Kraft von Raum­vor­stel­lun­gen und die da­hin­ter­ste­hen­den Ideen zur Ordnung oder auch Nicht­ord­nung des Raumes, seiner Ge­stal­tung oder Nicht­ge­stal­tung durch­aus sicht­bar und erkannt werden.


Das Mineralöllager auf dem Heppenser Groden bei Wilhelmshaven, Niedersachsen / September 2019

8.

Nun noch eine re­sü­mie­ren­de Frage, die von der auch im Buch immer wieder auf­ge­grif­fen­en nach Auf­klä­rung ausgeht – im ge­samt­ge­sell­schaft­li­chen oder nur ein­ge­schränk­tem Sinne oder gar auch nur im tech­ni­schen Sinne, aber eben auch bei ge­ziel­tem In­te­res­se, wie etwa bei der mi­li­tä­ri­schen Auf­klä­rung aus der Luft. Deshalb die Frage:


  • Können wir mit unserem Ansatz zwi­schen bild­haf­ter De­mon­stra­tion und rä­so­nie­ren­der Ar­gu­men­ta­tion einen Beitrag zur In­for­ma­tion und Auf­klä­rung in einer offenen ge­sell­schaft leisten, die immer stärker zu ein­sei­ti­ger Par­tei­nah­me oder gar „al­ter­na­ti­ven Fakten“ neigt?

Fabian Dosch:

Der Bild­band zeigt, was Land­nut­zung ist und wie sie aktuell, d. h. zum Zeit­punkt der Luft­bild­auf­nah­men vor­wie­gend in den Jahren 2019–2021 in Deutsch­land ge­stal­tet ist. Dabei zeigt sich vie­ler­orts ein über­ra­schen­des Bild: Der ge­nutz­te Raum ist viel­fäl­tig, äs­the­tisch und at­trak­tiv – oft klar ge­stal­tet durch die Viel­falt der Nut­zungs­an­for­de­run­gen. Er könnte in weiten Teilen sogar als „schön“ und gewiss wert­voll, als na­tür­li­che und ge­sell­schaft­li­che Res­sour­ce ein­ge­stuft werden. Zu­al­ler­erst gilt dies für his­to­ri­sche Land­schaf­ten und Kul­tur­denk­ma­le, die gut ¼ der Fläche Deutsch­lands ab­de­cken, aber auch für die nor­ma­len Frei­raum­nut­zun­gen oder auch für gebaute Land­schaf­ten. Damit soll kei­nes­wegs ge­leug­net werden, dass der Zustand der Land­schaft vie­ler­orts pro­ble­ma­tisch ist und An­sprü­che und Kon­flik­te um knappen Raum zu­neh­men. Dies zeigt auch die Analyse der 18 Land­schafts­ty­pen und 5 großen Land­schafts­ka­te­go­rien Deutsch­lands der zuvor ge­nann­ten Studie zur re­gio­na­len Land­schafts­ge­stal­tung. Land­schaft ist das Produkt, aber auch das Erbe und das Ge­wis­sen der ge­sell­schaft, ma­ni­fes­tier­te Ge­schich­te und Aus­druck ak­tu­el­ler wirt­schaft­li­cher und ge­sell­schaft­li­cher Ak­ti­vi­tä­ten im Raum. Die der­zei­ti­ge Land­nut­zung Deutsch­lands ist summa sum­ma­rum Aus­druck einer de­mo­kra­ti­schen und rechts­staat­li­chen ge­sell­schafts­ord­nung.


Der Parkplatz am Lausitzring, dahinter der EuroSpeedway Lausitz in Klettwitz bei Schipkau, Brandenburg / Juli 2019

9.

Und ganz am Schluss – die Frage vom Anfang wie­der­auf­neh­mend – die Frage aller Fragen:


  • Welchen An­spruch haben wir mit diesem Buch­pro­jekt?

  • Ist es der Versuch eines Spagats zwi­schen vi­sio­nel­ler und ana­ly­ti­scher Dar­stel­lung der räum­li­chen Gestalt Deutsch­lands, viel­leicht auch mit vi­sio­nä­rer Absicht an­ge­sichts des frü­he­ren und heu­ti­gen ge­sell­schaft­li­chen sowie räum­lich vor­an­schrei­ten­den Wandels – der lau­fen­den Trans­for­ma­tions­pro­zes­se?

Fabian Dosch:

Wir wollen den Diskurs um Land­schaf­ten, deren Wert für die Ge­sell­schaft, aber auch um deren Steu­er­ung durch die Raum­pla­nung beleben. Denn von einem wirk­li­chen ge­sell­schaft­li­chen Diskurs über Werte, ge­schwei­ge denn Ziele zur Land­schafts­ge­stal­tung, sind wir weit ent­fernt. Die Über­flu­tun­gen in Mit­tel­ge­birgs­tä­lern 2021 zeigen, wie wichtig in Zukunft eine nach­hal­tige Land­nut­zung und -ge­stal­tung ist, auch zur Min­de­rung der Aus­wir­kun­gen von Kli­ma­ex­tre­men. In der Debatte um die Gleich­wer­tig­keit von Le­bens­be­din­gun­gen und um Heimat spielt Land­schaft eher eine nach­ge­ord­ne­te Rolle. Zwar hat die Nach­fra­ge nach Land­schaft zu Zeiten der Pan­de­mie wieder zu­ge­nom­men, was sich auch em­pi­risch etwa über Mo­bi­li­täts­ver­hal­ten oder Such­ab­fra­gen zu dem Begriff belegen lässt. Welchen Wert Land­schaf­ten haben, be­stimmt sich in­di­vi­du­ell. Mit den ak­tuel­len Land­schafts­ver­än­de­run­gen wird die heutige junge Ge­ne­ra­tion „so­zia­li­siert“, wird sie kon­fron­tiert, das ist ihre „Nor­mal­land­schaft“. Die Ein­drü­cke der Älteren sind oft noch von an­de­ren, er­in­ner­ten oder über­lie­fer­ten Bil­dern, etwa klein­bäu­er­li­cher Land­nut­zung, geprägt, nor­ma­tiv über­la­gert. Land­schafts­be­wer­tung ist nor­ma­tiv, nur zu einem kleinen Teil in­ter­kul­tu­rell ver­gleich­bar, weil sehr grup­pen­spe­zi­fisch und damit in­di­vi­du­ell. Aber gewiss nicht wert­frei.

Die Ge­sell­schaft scheint nach der Pan­de­mie vor großen Ver­än­de­run­gen in der Raum­nut­zung zu stehen. Die schon seit 2012 zu be­ob­ach­ten­de Gleich­zei­tig­keit von Groß­stadt­wachs­tum und Sub­ur­ba­ni­sie­rung könnte in eine neue Phase der Sub-, wenn nicht sogar in eine Peri-Ur­ba­ni­sie­rung münden, womit die ver­stärk­te Be­sie­de­lung auch pe­ri­phe­rer Stand­or­te gemeint ist, auch „rur­ba­nism“ oder „ru­ra­lism“ benannt. Der Trend zu Home­of­fice, zu ver­stärk­ter Di­gi­ta­li­sie­rung, der Ver­la­ge­rung von pro­duk­ti­vem Ge­wer­be, aber auch Bü­ro­stand­orten an ver­kehrs­gün­sti­ge Lagen, einer wei­te­ren In­di­vi­dua­li­sie­rung, gün­sti­gem Bauland und auch neuen Formen zu­neh­mend auto­no­mer In­di­vi­du­al­mo­bi­li­tät, lässt die Ränder der städ­ti­schen Räume als Wohn- und Ar­beits­stand­or­te zu­neh­mend at­trak­tiv werden. Auch im Agrar­be­reich zeich­nen sich weiter massive Ver­än­de­run­gen der Land­nut­zung bei Gleich­zei­tig­keit von Agro­in­du­stria­li­sie­rung und nach­hal­ti­gen, klein­räu­mi­gen und öko­lo­gi­schen An­bau­me­tho­den ab. So sollen im Rahmen der lau­fen­den EU-Agrar­re­form künftig 25 % der Di­rekt­zah­lun­gen an die Bauern an Um­welt­auf­la­gen ge­bun­den sein.

Mit den Luft­bil­dern und ana­ly­ti­schen Texten in diesem Buch gilt es, einige über­ge­ord­ne­te Werte und Ziele der Land­schafts­ge­stal­tung über Viel­falt, Ei­gen­art und Schön­heit hinaus zu be­stim­men. Aus Sicht der Land­schafts­pla­nung und Raum­ord­nung geht es nicht nur um den Schutz his­to­ri­scher Kul­tur­land­schaf­ten, sondern auch um einen Ge­stal­tungs­auf­trag für die Raum­pla­nung, nicht zuletzt als Mittler zwi­schen den un­ter­schied­li­chen Nut­zungs­an­sprüch­en und den ihnen zu­ge­ord­ne­ten oder für sie zu­stän­di­gen Fach­pla­nun­gen – ei­gent­lich eine alt­be­kann­te Orien­tie­rung, nämlich durch sie hin­durch! Auch dies ist eine Form von „Schutz der Heimat“, „Iden­ti­tät“ in einer sich rasch ver­än­dern­den Welt zu wahren und zu schaf­fen; nicht im Sinne von Hei­mat­tü­me­lei und Kon­ser­vie­rung, sondern Be­wahr­ung und Ent­wick­lung eines tra­dier­ten Kul­tur­gu­tes, eines zu wah­ren­den, sinn­stif­ten­den Erbes.


Der ge­nutz­te Raum als Produkt un­ge­zü­gel­ter Land­nah­me wie auch zi­vi­li­sa­to­ri­scher Er­run­gen­schaf­ten glei­cher­ma­ßen, als Re­sul­tat ge­sell­schaft­li­cher, wirt­schaft­li­cher und öko­lo­gi­scher Ak­ti­vi­tä­ten wie auch eines durch Raum­ord­nung und Fach­pla­nun­gen flan­kier­ten und ge­steu­er­ten Pro­zes­ses, ana­ly­tisch erfasst und bild­haft dar­ge­stellt –


dies könnte auf eine „Formel“ ge­bracht das Ziel und die Be­schrei­bung des Buches sein.


Wendelin Strubelt:

Das Buch ver­folgt also einen breiten Ansatz. Es ver­bin­det ge­gen­wär­ti­ge Bilder zur Gestalt des Raumes in Deutsch­land, eines Kul­tur­rau­mes, der in den letzten über 200 Jahren einem dy­na­mi­schen Prozess der Ver­ge­sell­schaf­tung des Raumes, einem viel­fäl­ti­gem Wandel, von innen wie außen, un­ter­le­gen ist, mit be­glei­ten­den Ana­ly­sen aus sehr un­ter­schied­li­chen Sicht­wei­sen. In dieser Absicht soll und will es, um den Begriff noch einmal auf­zu­neh­men, im hof­fent­lich besten Sinne – weil eben aus vielen, mul­ti­di­men­sio­na­len Per­spek­ti­ven – zur Auf­klä­rung bei­tra­gen.

Das Buch ver­bin­det vi­sio­nel­le Dar­stel­lun­gen mit ana­ly­ti­schen An­sät­zen. Es ver­sucht, sowohl dem Wandel der Mög­lich­kei­ten der Fo­to­gra­fie wie auch den un­ter­schied­li­chen wis­sen­schaft­li­chen An­sät­zen zum Zu­sam­men­hang von Ge­sell­schaft und Raum gerecht zu werden. Es ist in diesem Sinne eine Sicht auf die Ge­gen­wart dieses zuletzt ge­nann­ten Ver­hält­nis­ses, ein­ge­bet­tet in ver­gan­ge­ne Ent­wick­lun­gen und Prä­gun­gen sowie Aus­bli­cken in die Zukunft. Es ist ein Angebot zur Dis­kus­sion, ein Beitrag zur Zeit und des sie be­glei­ten­den Zeit­gei­stes. Und es ist ein Buch im Span­nungs­feld ihrer Autoren in Bildern und Texten ei­ner­seits und den Er­war­tun­gen seiner Le­se­rin­nen und Leser an­de­rer­seits.


Der Sportplatz Kleine Hamburger Straße in Berlin-Mitte / Juni 2012